Ich dachte schon, ich würde sterben ohne dass der Samba Anerkennung findet“, freut sich Paião über die UNESCO-Auszeichnung vom November 2005 für den Samba de Roda als immaterielles Weltkulturerbe. Der Viola- und Cavaquinho-Spieler lebt in einem Häuschen, umgeben von Mango-, Cajá- und Siriguela-Bäumen, im Recôncavo, dem Hinterland von Salvador de Bahia, Brasilien. An diesem Samstag Nachmittag hat sich hier die Gruppe von Teodoro Sampaio versammelt: MusikerInnen, SängerInnen und Tänzerinnen bilden einen Kreis (Roda), und die Frauen betreten ihn eine nach der anderen um zu tanzen. „Mein Herz hängt am Samba“, sagt die pensionierte Lehrerin Dona Fita, „er gibt Kraft und Stärke.“ Angeregt von Bier und Cachaça, dem heimischen Zuckerrohr-Schnaps, sind die zumeist über 60-Jährigen trotz der Hitze voll in Fahrt. Ihre Lebenslust und Freude an der eigenen Musik überträgt sich auch auf die Gäste, darunter den Bürgermeister der nahe gelegenen Stadt Teodoro Sampaio. Er verspricht sich eine Revitalisierung des Samba, der als Musik der Alten gilt, und einen wirtschaftlichen Aufschwung für die Region, denn „die ist zwar arm, aber unsere Rhythmen sind reich“.
Es war der bekannte Sänger und Kulturminister von Brasilien Gilberto Gil, der anregte, den Samba de Roda, entstanden auf den Zuckerrohr- und Tabakplantagen als Ausdruck afro-brasilianischer Kultur und Identität, bei der UNESCO einzureichen. Die Koordination übernahm das Institut für das nationale historische und künstlerische Erbe (Instituto do Patrimônio Histórico e Artístico Nacional – IPHAN). Das IPHAN finanzierte auch 2004 die Erhebung der Samba de Roda-Gruppen im Recôncavo sowie Ton- und Bildaufnahmen. Dabei lernte die Musikethnologin Katharina Döring João und Antonio Saturno in Sao Braz kennen. Die ehemaligen Zuckerrohrarbeiter hatten eine spezielle Gesangstechnik entwickelt, die aber mit ihnen aussterben wird, denn Nachfolger sind keine in Sicht. Katharina Döring ist trotzdem optimistisch. „Alleine das Interesse von uns Wissenschaftlern bewirkte bei den Sambagruppen eine Veränderung“. Viele wurden sich des Wertes der alten Viola Instrumente wieder bewusst, die sie inzwischen durch das modernere, lautere Cavaquinho ersetzt hatten.
Sambaspieler wie Eduardo aus der Kleinstadt Maragojipe waren ja immer schon von ihrer Musik überzeugt. Der ehemalige Hilfsarbeiter hat vier Kinder, die der Musik des Vaters nichts abgewinnen können. „Ganz schön dumm“, findet Eduardo „im Gegensatz zu mir haben die auch keinen Spaß am Leben.“
Szenenwechsel – eine Vimbuza-„Klinik“ in Gombe, Malawi im südlichen Afrika, wo in Kürze eine Patientin mittels Heiltanz kuriert werden soll. Das „Wartezimmer“ – eine graue Matte im rötlichen Sand. Darauf fünf jüngere Frauen sowie die „Behandlungsinstrumente“: ein Becher mit Kräuterabsud, eine Schüssel voll Cassava-Mehl, eine schlammgrüne Decke, ein Teller mit Sand und getrockneten Kräutern, Schellen. Es ist ein kühler Abend und die Trommeln müssen über einem Feuer erwärmt werden. Dann ist es soweit. Mary Sayenda, Leiterin der „Klinik“, hält einer ihrer Patientinnen Kräuterrauch unter die Nase und stülpt die Decke über die Frau. Die Trommler setzen ein, unterstützt durch das Singen und Klatschen der Dorfbevölkerung, die sich rund um die Szene versammelt hat. Die Decke wird weggezogen, der Körper der jungen Patientin mit Kräuterabsud bestrichen. Man legt ihr Schellen um Hüfte und Knöcheln. Mary Sayenda zieht mit dem Cassava-Mehl einen Kreis um die Matte: die Bühne, die Arena, der Behandlungsraum. In diesem Kreis wird die Frau ihre Krankheit, oft „ sehr großes Kopfweh“ genannt, austanzen.
Nach etwa zwei Stunden ist alles zu Ende. Bernard Kwilimbe, stellvertretender Direktor der Abteilung Kunst und Kunsthandwerk im Ministerium für Jugend, Sport und Kultur in Malawi entschuldigt sich für die kurze „Vorführung“ des Vimbuza-Heiltanzes, der oft eine ganze Nacht hindurch dauert. Im Verlauf dieser Nacht tanzen die Kranken bis zur totalen Erschöpfung und die Heilerin oder der Heiler erhält in Trance Informationen über die Krankheit.
Vimbuza bei der UNESCO einzureichen war eine gemeinsame Aktion von Kwilimbes Abteilung im Ministerium sowie der nationalen UNESCO-Kommission. Bernard Kwilimbe ist mit dieser traditionellen Heilmethode aufgewachsen. Er wäre gerne selbst ein Heiler geworden, doch – wie er bedauert – „das ist ein Privileg, das nur wenigen zuteil wird“. Die Anerkennung durch die UNESCO im November 2005 bestätigt für ihn den hohen Wert eines Heilsystems, das im 19. und 20. Jahrhundert von den christlichen Missionaren wie auch von der englischen Kolonialregierung verboten worden war. Vielen an der Schulmedizin orientierten ÄrztInnen gelten die Vimbuza-HeilpraktikerInnen auch heute noch als Scharlatane. Sie beklagen sich darüber, dass die Leute statt ins Spital zu den HeilerInnen gehen. „Viele sterben deswegen“, bestätigt auch der Vimbuza-Experte Boston Soko, Professor an der Universität Mzuzu im Norden Malawis. Malawi zählt nicht nur zu den ärmsten Ländern der Welt, es hat auch eine der höchsten HIV- und Aids-Raten. Andererseits, gibt Bernard Kwilimbe zu bedenken, sind die Spitäler oft überfordert. Die westlich geschulten ÄrztInnen erkennen, so Kwilimbe, anders als bei Malaria oder Aids die Symptome nicht, die auf Hexerei als Ursache einer Krankheit hinweisen. Sie behandeln Krankheiten, die durch Ahnen oder Vimbuza-Geistwesen ausgelöst wurden, wie herkömmliche Geisteskrankheiten. Die PatientInnen, denen sie nicht helfen können, wenden sich daher an HeilerInnen wie Deveti Moria.
Etwa eine halbe Autostunde von Mzuzu entfernt zeigt ein kleines Schild mit der Aufschrift „African Doctor“ Richtung Maisfeld. Deveti Moira praktiziert in einem 40 Quadratmeter großen Raum. So wie die meisten anderen Vimbuza-HeilerInnen hat sie von der UNESCO-Auszeichnung noch nichts gehört. Auf die Frage, was sich für sie dadurch ändern könnte, weiß sie zunächst keine Antwort. Dann meint sie, „es wird so sein wie bisher“: Die Spitäler werden ihr weiterhin gelegentlich PatientInnen im Krankenwagen vorbeischicken, die als unheilbar gelten. Und sie wird weiterhin viele Leute gratis behandeln, denn die Armut wird ja durch die Auszeichnung nicht über Nacht verschwinden.
Große Hoffnungen machten sich hingegen 2001 die RepräsentantInnen der Garinagu in Belize durch die Auszeichnung der Garifuna-Kultur als Meisterwerk. Vier Jahre später beklagt Felix Miranda, Mitbegründer der „World Garifuna Organisation“, die ausbleibende Unterstützung durch die UNESCO: „Ganz ehrlich, ich bin enttäuscht.“ So wie er meinen viele ProponentInnen der Meisterwerke des Immateriellen Erbes, der UNESCO-Schutz bedeute automatisch Geld und Erfüllung aller Forderungen. Aber diese Erwartungen gehen in die falsche Richtung, denn Ansprechpartner ist nicht die UNESCO, sondern der jeweilige Staat. Im Fall von Belize fühlt sich dieser zwar „geehrt“, ist aber „derzeit nicht in der Lage zu investieren“, wie die UNESCO-Vertreterin vor Ort zugeben muss. Darin zeigt sich die Zwiespältigkeit, der sehr viele „Meisterwerke“ ausgesetzt sind.
Die Garinagu sind im Gegensatz zu anderen Minderheiten in dem kleinen zentralamerikanischen Land etabliert. Die afro-amerindianische Bevölkerungsgruppe, Nachfahren jener „Schwarzen Kariben“, die im so genannten Karibenkrieg Ende des 18. Jahrhunderts auf Seiten der Franzosen gegen die Briten gekämpft hatten, hat in Belize sogar einen eigenen Feiertag durchgesetzt. Einige ihnen wohl gesonnene PolitikerInnen trugen dazu bei, dass 2004 das Garifuna-Museum in Dangriga eröffnet werden konnte. Die Radiostation „Hamalali“ wurde mit Unterstützung der UNESCO erweitert, sodass die Programme nun in ganz Belize sowie im Süden von Guatemala und in Honduras zu empfangen sind. Das UNICEF-Büro in Costa Rica initiierte im September 2006 ein zweijähriges Projekt für die Revitalisierung und den Schutz der Garifuna-Sprache, -Musik und -Tänze in Belize, Honduras, Guatemala und Nicaragua, wo die heute rund 100.000 Garinagu leben. Die UNICEF finanziert auch ein Projekt für die Garifuna- und Maya-Bevölkerung in Belize. Es beschäftigt sich u.a. mit der Entwicklung von Methoden, wie das Wissen der indigenen Völker im nationalen Schulsystem vermittelt werden kann. Erfolge gibt es auch in Sachen Sprachunterricht. Erst kürzlich entschied das Erziehungsministerium von Belize, eine Vor- und Grundschule in Dangriga zu finanzieren, die vom Nationalen Garifuna-Rat betreut und im September 2007 ihre Tore öffnen wird.
Das alles ist der selbstbewussten Garinagu-Gemeinschaft zu wenig. Der Nationale Garifuna-Rat hat konkrete Forderungen an den Staat: Pier-Anlagen für Garifuna Dörfer wie Hopkins und Seine Bight, damit die Touristenboote der großen Kreuzfahrtschiffe auch hier anlegen können. Verbesserung der wirtschaftlichen Situation, um die Auswanderung in die USA zu stoppen. Derzeit ist die Arbeitslosigkeit hoch, und selbst in den Garifuna-Zentren wie Dangriga sind die meisten Hotels, Supermärkte, Bekleidungsshops und Lokale nicht in den Händen der Garinagu, sondern im Besitz von KreolInnen sowie UnternehmerInnen aus China, Taiwan, Libanon, Indien, USA.
Während in- und ausländische InvestorInnen Belize aufkaufen, um Golfplätze, Wellness-Anlagen und Fünf-Sterne-Hotels zu errichten, beanspruchen die Garinagu Land nicht als Privatbesitz, sondern als Grundlage, um darauf zu leben und es nutzen zu können. Wie zum Beispiel die Cayes, jene Inseln entlang der Küste und des zweitlängsten Korallenriffs der Erde, die zu den touristischen Hauptattraktionen gehören. In der Garifuna-Kultur sind die Cayes unverzichtbar für den Dugu, ihre wichtigste Danksagungs- und Heilzeremonie. Daher die Forderung: Kein Verkauf der Cayes an Private, damit der öffentliche Zugang erhalten bleibt.
Die Zukunft wird zeigen, wie es der Staat mit der materiellen Unterstützung für sein immaterielles Kulturerbe hält.
Das gilt auch für die meisten anderen „prämierten“ Meisterwerke. Die ProtagonistInnen dieser Kulturen können nun stolz auf das Etikett „ international anerkanntes Kulturerbe“ verweisen, aber nach den Feierlichkeiten beginnt der Alltag der kleinen Schritte. Die offizielle Bestätigung beinhaltet nicht automatisch Erhalt, Förderung, Aufschwung, ist also nicht „all inclusive“. Jetzt liegt es an der Zähigkeit der VertreterInnen dieser Meisterwerke und an den lokalen Gemeinschaften, von ihren Staaten Maßnahmen einzufordern, die nicht nur das Vorhandene aufzeichnen, dokumentieren und bewahren, sondern neue Impulse zur Weiterentwicklung dieser Kulturformen setzen.